Jennifer P. Haehle – Brigid

Nicht jeder hat Zutritt zur Stadt Valys, doch Brigid findet eine Lücke. Als Langfinger will sie die Stadt zum 1000-Lichterfest unsicher machen, doch das kann nur gelingen, wenn sie zunächst die Harlundin Gazli und ihre Reisegruppe loswird.


Auf der Brücke vor der Stadt Valys, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, beugt sich Brigid über die Brüstung und betrachtet den Fluss, der sich unterhalb hindurchschlängelt. Das Wasser bricht sich auf den Steinen und glitzert unaufhörlich in den Strahlen der tiefen Herbstsonne. Herabfallende Blätter, vom Wind davongetragen, landen hin und wieder auf der seichten Strömung des Flusses und setzen ihren Weg nun in unbekannte Gebiete fort.

Brigid legt ihren Kopf unter der Kapuze leicht schräg und blickt aus dem Augenwinkel zum Stadttor. Nicht mehr lange, bis der Wachpostenwechsel erfolgt. Normalerweise kommt niemand durch das Tor, der keine lupenreinen Papiere vorweisen kann. Ganz zu schweigen davon, mit keinerlei Papieren Zugang gewährt zu bekommen. Doch auch beim Eintritt in die bestbewachte Stadt des Landes findet sich mit einem Quäntchen Glück eine Lücke.

Wie vermutet, trottet kurze Zeit später ein gelangweilt drein blickender Gardist zum Tor. Er wechselt einige Worte mit seinem Dienstvorgänger, bevor dieser den Heimweg antritt, und setzt sich dann schwerfällig stöhnend auf einen Mauervorsprung. Man muss nicht besonders schlau sein, um zu erkennen, dass er bereits mächtig einen sitzen hat. Ob nur becherweise Gerstenbräu die Ursache war? Oder ist für die Herren der Hohen Garde gar der teuer zu erstehende Met der Stadt erschwinglich? Wer weiß schon, womit sich dein steter Freund und Helfer seinen Mut antrinkt, um dir in nahezu jeder Notlage beizustehen, denkt Brigid. Die Hilfe voraussetzend natürlich, deine Papiere sind einwandfrei ... und du hast welche. Brigid schmunzelt in sich hinein. Zumindest ist Verlass darauf, dass alljährlich zum Stadtfest der tausend Lichter des frühen Nachmittags ein solch unzureichend achtsames Exemplar der Hohen Garde den Zugang überwacht.

Der Zulauf ins Stadtinnere lässt kurz nach der Mittagsstunde gerade nach. Offenbar ist dieser Umstand dem trägen Gardisten wohlbekannt und weil auch die Person mit der Kapuze auf der Brücke keinerlei Anstalten macht, um Einlass zu bitten, wickelt er ein in Papier eingeschlagenes Brot aus und beißt genüsslich hinein. Den letzten Bissen schmatzend hinunterschlingend, knüllt er das Papier zusammen, wirft es achtlos in den Rinnstein und greift in seine Manteltasche, um sich noch einen ordentlichen Schluck aus einem Lederbeutel zu genehmigen. Ein paar Minuten und ein unflätiges, lautes Rülpsen später, beobachtet Brigid, wie sein Kopf langsam auf seine Brust sinkt und die ohnehin bereits unzureichende Beobachtungsgabe des Mannes ins Nichts abdriftet.

Das war wieder ein Leichtes, denkt sie und schlüpft unbemerkt durch das Stadttor. Jetzt musste sie nur noch als Besucherin der Stadt ... 

„Kommen Sie herbei, herbei!“ 

... ungesehen an den Fremdenführern vorbei. Das war wohl nichts. Eine hochgewachsene Frau winkt sie fröhlich heran. Sie steht vor einer kleinen Gruppe deplatziert wirkender, sich staunend um sehender Menschen – allesamt Besuchende der Stadt, wie es den Anschein macht. Denn neben ihnen stehen, in einer Wolke aus Gestank, drei Vanvans. Die Lastentiere von Valys sind bereits mit Gepäckstücken einiger der Menschen aus der Gruppe beladen. Gleich drei Männer stehen für die Tiere bereit und als sie bemerken, dass Brigid als letzte Ankommende der Gruppe kein Gepäck dabei hat, machen sie sich daran, die stinkenden Vanvans in Bewegung zu setzen. Mit Rufen und im Notfall auch  Schieben der Hinterteile, treiben sie die störrischen Tiere quer durch die Innenstadt in Richtung Gauklermarkt, wo sich auch die Gasthäuser befinden. Die gesamte Gruppe, einschließlich Brigid, sieht diesem planlosen Schauspiel wie gebannt zu. Schließlich verschwindet die Meute um eine Kurve, es bleibt lediglich ihr übler Geruch zusammen mit reichlich Hinterlassenschaften auf Pflastersteinen.

„Willkommen, willkommen! Sie habe ich hier auch noch gar nicht gesehen“, wendet sich nun die große Frau wieder zu Brigid. „Mein Name ist Gazli Wederwandel, Fremdenführerin von Valys - in der Hochsprache auch Harlundin genannt - erfahrenste Begleiterin aller Besucher und Besucherinnen. Führende Persönlichkeit, wenn es darum geht, die versteckten und interessantesten Ecken Valys‘ zu offenbaren, um Ihnen ein einmaliges Städteerlebnis zu garantieren!“

Brigid wusste genau, wer Gazli Wederwandel war. Die Sauertöpfe von Fremdenführern, denen sie in den letzten Jahren hier begegnete, bemerkten das Schrumpfen ihrer zu führenden Schäfchen in der Regel nicht - oder zu spät. Gazli im Gegensatz war die aufmerksamste aller Harlunden der Stadt, weswegen es wohl nicht einfach werden würde, ihren stechenden Blicken zu entkommen. Dass Frau Wederwandel sich scheinbar selbst gern reden hörte, war Brigid allerdings noch unbekannt und so sieht sie darin ihre Chance, der Gruppe früher oder später zu entkommen. Wäre wohl besser früher, als später, wenn ihr der Tag heute noch etwas einbringen sollte.

Viele Bewohner von Valys und auch die Besucher versuchen beim 1000-Lichterfest das schnelle Geld durch Glücksspiele zu machen. Sowohl auf der Spielerseite, als auch - wohl mit mehr Erfolg - auf der Betreiberseite. Unwissende Touristen waren immer dankbare Opfer. Wenn Fragen zu ihrem Alleingang kämen, würde sie sich natürlich als unwissende Touristin ausgeben, beschließt Brigid.

Dass sie zum ersten Mal die Stadt Valys und ihr großes Fest besuche, wie aufgeregt sie sei, erzählt sie schließlich auch Gazli, die sie nun nach ihrem Aufenthalt fragt. Ihr fehlendes Gepäck erklärt sie mit einer Übernachtungsmöglichkeit bei entfernten Verwandten außerhalb der Stadt unten in den Wiesenlanden. Sie ignoriert Gazlis Naserümpfen bei der Erwähnung dieser Tatsache und fügt hinzu, dass sie weiter aus dem Süden komme. Auch wenn bekanntlich alle außerhalb der Stadt bei den Valysern verpönt waren, so sind Besuchende aus dem Süden doch gern gesehen. Denn beim Ersuchen berauschender Abwechslung, die nur Valys ihnen bieten konnte, bringen sie das Geld. Aber die ärmlichen Bewohner der Dörfer in den Wiesenlanden waren gemeinhin nur der Pöbel vom Pöbel – Leute ohne einwandfreie Papiere, versteht sich.

„Nun gut, verschwenden wir keine Zeit“, fährt Gazli fort und richtet das Wort wieder an die gesamte Gruppe. „Unser Rundgang startet in der Oberstadt. Gegen Sonnenuntergang werden ganz traditionell zum Fest der 1000 Lichter die Laternen am Palast des Mandaten entzündet. Der Mandat höchstpersönlich wird das erste Licht entfachen. Den Lichtern folgend, die alsbald unsere ganze Stadt erhellen werden, begehen wir die Altstadt und finden uns schließlich zu den Festivitäten auf dem Gauklermarkt zum glanzvollen Abschluss des heutigen Tages ein. Wenn ich Sie nun noch über drei Grundregeln beim Besuch der einmaligen Stadt Valys aufklären dürfte. Erstens ...“

Jetzt kommt der Teil, den alle Fremdenführer drauf haben und herunterspulen. Brigid konnte ihn bereits auswendig. Erstens: Nie von deinem Harlunden entfernen – ihr Plan für den heutigen Tag. Zweitens: Die Garde ist dein Freund – denkt man an die lüsternen Blicke einiger Gardisten in den vergangenen Jahren, dann wären einige der Kerle gern mehr als nur dein Freund ... und drittens: Betritt nie das Tempel-Viertel! 

Höchstwahrscheinlich geht es genau dort richtig zur Sache. Man sagt, niemand wisse, was hinter den roten Mauern so genau vor sich geht. Einlass ist dort nur den Templern vorbehalten und sie verbitten sich jegliche Einmischung in ihre geheimen Aktivitäten. Und obwohl das so ist, kann man am Abend des 1000-Lichterfestes beobachten, wie zwei bestimmte Arten von Besuchern dort einkehren. 

Brigid denkt an ihre Beobachtungen im letzten Jahr. Einerseits ist es der Mandat mitsamt den Obersten der Stadt, dem teuren Zwirn nach zu urteilen. Dass diese mit ihrem Reichtum da in irgendeiner Weise mitmischen, kann man sich ja denken. Der andere, kleinere Teil Besucher, dem nur an diesem einen Abend im Jahr der Zugang gewährt wird, sind jedoch Leute außerhalb der Stadt. Hinter vorgehaltener Hand sprechen die Valyser von Wagemutigen sowohl einfachen als auch magischen Geblüts, die an geheimen Wettkämpfen teilnehmen. Unter jenen, die der Geldmacherei wegen in die Stadt kommen, munkelt man vom größten Geschäft des Jahres.

Doch wegen dieses Preisgelds ist Brigid nicht hier. So viel sie bisher in Erfahrung gebracht hat, sind sowieso nur männliche Teilnehmer zugelassen. Auch wenn sie ihr Haar kürzer tragen und ihre jungenhafte Art zum Vorteil nutzen würde, so wäre Brigid naiv zu glauben, in den engen Kreis aufgenommen zu werden, der seit Langem Bestand hatte. Und was man so hörte, könne niemand Valery ‚den Groben‘ besiegen, um welche Art von Kampf es sich dabei auch handelte. Seine magischen Fähigkeiten mussten die der anderen Teilnehmer um ein Vielfaches übersteigen. Jahr für Jahr streiche er den Gewinn des Templerordens ein.

Nein, Brigid bezieht ihre „Einkünfte“ vielmehr aus günstigen Gelegenheiten und das mit Leichtigkeit im alltäglichen Trubel. Gelegenheiten wie diese, welche sich eben ergibt. Ihre Gedanken werden jäh unterbrochen und sie schaut auf Gazli Wederwandel, die ihre Belehrungsansprache gerade beendet, die Gruppe zu Folgen auffordert, sich umdreht und ... direkt in einen Vanvan-Haufen tritt. Unter reichlich „Ooh’s“ bricht ein kleiner Tumult aus, die meisten der Gruppe schauen sich Hilfe suchend um, ein Mann reicht Gazli ein altes Tuch, das er einstecken hat. Diese stützt sich auf einen anderen Mann der Gruppe und versucht, die stinkende Hinterlassenschaft an der Kante des Rinnsteins abzukratzen. Nicht wenige rümpfen die Nase und fangen an, über die Haltung von Vanvans in Städten allgemein zu diskutieren. Als einige beginnen, Gazli mit Fragen hierzu zu löchern, nutzt Brigid die Ablenkung, um nach links in eine kleine düstere Gasse abzubiegen.

Ihr eingeschlagener Weg führt sie direkt zu den Hexenwiesen. Genau die richtige Adresse für magische Artefakte und Utensilien, für Tränke und mehr. Aber die seriöseren Dinge, nicht solche, die auf dem Gauklermarkt an einfache Leute verkauft werden. Hier wird sie sicher fündig, denn sie soll noch etwas für einen Freund mitbringen. Brigid sieht sich auf den Wiesen um. Vor ihr liegt eine weite verwilderte Fläche mit einem angrenzenden Wald, ein paar Obstbäume verteilen sich im hohen Gras.

Rechterhand befinden sich ein paar kleinere Verkaufstische. Zwei ältere Frauen tauschen sich gerade aus, während sie über einen großen Bergkristall gebeugt sind. Eine weitere füllt eine trübe Flüssigkeit aus einem kleinen Kessel in gläserne Karaffen. Etwas abseits zu ihrer Linken geht ein kleiner Hexenzirkel bedächtig im Kreis. Ihre langen dunklen Gewänder stehen im Kontrast zu ihren weißblonden glatten Haaren. Sie wirken wie eins mit ihrem Äußeren, dem ähnlichen Gang und den fremdklingenden Worten, die sie nun anfangen, im Chor zu sprechen. Ab und an hebt eine Person die Hände gen Himmel. Es ist ein faszinierendes Schauspiel.

Früher war Brigid neidisch auf die magische Gemeinschaft gewesen. Als Waise von der Nachbarsfamilie aufgenommen, aber nie wirklich dazu gehörend, hatte sie sich oft vorgestellt, dass sie magischen Geblüts sein könnte und ihre wahre Familie sie irgendwann zu sich holen würde. Als die Entwicklung magischer Fähigkeiten ausblieb, war sie verzweifelt. Brigid hatte sich sogar gewünscht, wenigstens ein Mann zu sein. Denn dann wäre ihr ohne magisches Blut zumindest die Möglichkeit geblieben, sich in der Zauberkunde ausbilden zu lassen. Man kann Magier und Hexen mit Wissen zur Seite stehen und ist somit Teil der magischen Gemeinschaft.

Heute weiß sie natürlich, dass diese Gemeinschaft nicht gleich eine große glückliche Familie ist. Sie hat gelernt, dass es vielmehr solche Magische und solche Magische gibt. Nicht alle helfen sich gegenseitig und einige sind in dunkle Machenschaften verwickelt. Es gibt sogar Verfolgungen bestimmter Gruppen Magischer. Sie muss an die Erzählungen und schlimmen Erlebnisse ihres Freundes denken, was sie prompt in die Gegenwart zurückbringt. Sie hat noch einiges zu tun und so geht Brigid nun auf den Tisch mit den Tränken zu.

„Der Trank zur Unterdrückung magischer Fähigkeiten soll es sein? Kennst du dich damit aus, Mädchen?“, fragt die alte Hexe freundlich, aber ehrlich besorgt, als Brigid ihr das Fläschchen zum Bezahlen entgegen reicht. „Bist du denn eine Hexe?“

„Nein, ich besorge den Trank für einen Freund.“

„Gehört er zu den Verfolgten?“, flüstert die Alte plötzlich und ihre Augen werden groß. Dann sagt sie verschwörerisch: „Ich habe gehört, dass der Tempelorden sogar Verfolgte an seinen geheimen Wettkämpfen teilnehmen lässt. Ob dieser Gewinnertyp Valery auch einer von jenen ist?“

„Vielen Dank“, antwortet Brigid nur und gibt der Frau das Geld. 

Sie verstaut den Trank sicher in der Innentasche ihres Umhangs und macht schnell kehrt. Zu gefährlich ist es, über die Verfolgten zu sprechen.

Brigid schlägt nicht wieder den Weg der Gasse ein, sondern nimmt einen kleinen verborgenen Aufgang hinter den Zelten der Hexenwiesen. Dieser hinter einem zugewachsenen Mauervorsprung versteckte Pfad führt direkt auf den alten Friedhof. Von hier aus kann man den Gauklermarkt von der anderen Seite aus betreten.

Solange sich die Reisegruppe um Gazli Wederwandel noch bis zum Entzünden der Lichter in der Oberstadt befindet, sollte sie sich unentdeckt ins Getümmel des bereits gut gefüllten Marktes stürzen können.

Eigentlich ist auf dem Gauklermarkt das ganze Jahr über was los. Gaukler, Händler und Bewohner treffen sich hier tagein, tagaus. Es gibt sogar einen Zirkus. Und doch setzen die Valyser einmal im Jahr zum Fest der 1000 Lichter tatsächlich noch eins obendrauf und heißen weitere Händler und Schausteller willkommen. Das erweiterte Angebot zieht auch die Besuchenden aus dem Süden an und die Gasthäuser um den Markt erfreuen sich an vollen Schankstuben und Betten.

Brigid lässt die Ruhe des Friedhofs also hinter sich, sie tritt durch das alte Eisentor auf den Marktplatz und wird sofort von einem lauten Durcheinander empfangen. Ihr schlagen verschiedenste Essensgerüche entgegen und die eben noch durch die Friedhofsmauern gedämpften Geräusche dringen jetzt im vollen Umfang an ihre Ohren. Brigid versucht gar nicht erst etwas herauszufiltern. Vielmehr konzentriert sie sich, diese Geräuschsuppe aus grölenden, lachenden Menschen, marktschreienden Händlern und Spielorgelgedudel auszublenden und sich ihrer Aufgabe zu widmen, indem sie zunächst das Geschehen unter die Lupe nimmt.

Auf dem Markt eifern junge wie alte Besucher bei harmlosem Zielschießen und anderweitigem Kräftemessen um die Wette. An einem Wahrsagezelt herrscht großer Andrang. Einige Leute drängeln und streiten sich, wer als nächster drankommt. Brigid hebt einige zu Boden fallende Lystas- und Lygrosmünzen auf und ergattert auch einen kleineren Geldbeutel eines grob drängelnden Mannes. Er bemerkt nicht, wie sie sich eng an ihm vorbeischiebt und den Beutel aus seiner Tasche zieht, als er soeben eine andere Frau aus der Reihe stößt. Auf diese und ähnliche Weise umrundet sie einmal in gewohnter Manier den Gauklermarkt und im Laufe des Nachmittages finden sich mehr und mehr Münzen in ihren einst leeren Taschen wieder.

Als langsam der Abend anbricht, werden in den Gast- und Wohnhäusern rings um den Markt Laternen und Kerzen in Fenstern und Türen entzündet. Das bunte, grelle Treiben des Tages wird in ein angenehm rötliches Dämmerlicht getaucht. Auch wenn die Geräuschkulisse kaum abnimmt, so lässt der veränderte Anblick doch fast die schmutzigen Ecken der Stadt sowie das teils raue Treiben vergessen. Es sieht wirklich wunderschön aus, denkt Brigid. Doch ihr wird auch augenblicklich klar, dass der Mandat in der Oberstadt unlängst das erste Licht entzündet haben muss. Die geheimen Kämpfe im Templerviertel mussten längst beendet sein - ob Valery ‚der Grobe‘ auch dieses Jahr gewonnen hat? Auf jeden Fall werden auch der Mandat und die Obersten, samt der Hohen Garde auf den Weg hierher zum Gauklermarkt sein und somit auch die Harlundin Gazli. Wenn sie sie entdeckt und meldet... Brigid entscheidet, dass es Zeit wird, sich auf den Weg zu machen.

Am unteren Ende des Gauklermarktes, von dem aus die breite Gasse Richtung Stadttor abgeht, sieht sich Brigid unerwartet der jüngsten Attraktion der Festlichkeit gegenüber. Nämlich dem schätzen, was wohl ein riesiger Haufen Vanvan-Kot wiegt. Scheinbar haben sich findige Geschäftsleute daran gemacht, die Hinterlassenschaften aus früherer Stunde zusammenzuschieben, um sozusagen aus Scheiße Gold zu machen. Der abartige Gestank hielt die vom Glücksspiel taumelnden Menschen nicht ab, sich auch hieran zu versuchen. 

Allerdings liegt ein Streit in der Luft, ein Schätzer fühlt sich betrogen und will die große Waage näher inspizieren. Das passt dem Betreiber wiederum gar nicht und so entbrennt ein Gerangel zwischen den beiden. Brigid will eigentlich weiterziehen, als sie sieht, wie sich der Betrogene eine Handvoll Vanvan-Kot nimmt und es auf den anderen Herren wirft. Unversehens artet die Situation aus, das wachsende Getöse lockt schnell viele Schaulustige an. Sie jubeln und rufen den miteinander ringenden Streithähnen zu. Nicht nur die Szenerie der nun mit Kot beschmierten Streitenden, sondern auch die Zuschauenden sind Brigid zuwider. Doch wenn diese ihren eigenen trostlosen Alltag im Leid anderer vergessen und ihre Hände aus ihren gut gefüllten Taschen strecken, kann Brigid auch nicht umhin, ihre „Fingerfertigkeiten“ ein letztes Mal ins Spiel zu bringen. Die späte Stunde macht wohl auch sie leichtsinniger.

Diesen Fehler muss sie sich eingestehen, als sie von einer kräftigen Hand an der Schulter gepackt wird.

„Was soll das? Du hast mich bestohlen“, wird sie laut angefahren und der Mann reißt Brigid die Kapuze vom Kopf. Kurz zuckt er zusammen, als er die junge Frau mit dem langen, geflochtenen Zopf sieht, dann fasst er sich wieder. „Verständigt die Garde, unter uns befindet sich ein Dieb!“, ruft er in die Menge.

Er will nach Brigids Handgelenken greifen, um sie dingfest zu machen, doch sie ist schneller und tritt ihm mit voller Wucht auf den Fuß. Dann bückt sie sich, dreht sich tänzelnd unter seinem Arm hindurch und rennt zurück in die Menge inmitten des Gauklermarktes. Das beste Versteck ist mittendrin - sie hofft inständig, dass der Rat ihres Freundes stimmt.

Schubsend und drängelnd arbeitet sie sich Richtung Wahrsagezelt vor und unter erbosten Einwänden schlüpft sie hinein. Erstaunte Blicke vom Wahrsager verfolgen, wie sie blitzschnell im hinteren Teil das Zelt wieder verlässt. Sie orientiert sich kurz und rennt dann weiter zum alten Friedhof. Auch wenn sie sicher ist, dass sie niemand verfolgt, schlägt sie spontan lieber diesen düsteren und wenig besuchten Rückweg ein. Sie eilt den verborgenen Pfad zu den Hexenwiesen hinab und läuft ohne sich umzusehen quer über die Wiesen auf einen kleinen Tunnel zu, der sie zum Anulen-Pflanzenviertel führt. Sie hatte ihn im Vorjahr entdeckt und war sich damals schon sicher, dass sie diese praktische Abkürzung einmal brauchen würde. In diesem Viertel fällt sie am wenigsten auf, denn Fremde sind hier gern gesehen, die Anulen eine friedfertige Gemeinschaft.

Hier kann sie kurz verschnaufen. Sie verlässt das Ende des Tunnels und hält am Rande der Mauer, die den Zugang zum Tunnel offenlegte. Brigid streicht sich ihren Zopf nach hinten und zieht die Kapuze wieder über den Kopf. Dann lehnt sie sich an die Mauer und versuchte ihre Atmung zu beruhigen.

„Hey, möchtest du dich auf eine Suppe zu uns setzen, Fremde?“ 

Brigid erschreckt Sie hat die drei jungen Frauen, mit ihren Schälchen in den Händen auf der Wiese sitzend, gar nicht bemerkt.

„Vielen Dank“, sagt sie schon etwas gefasster, „aber ich werde zu Hause zum Essen erwartet.“ 

Und so stößt sie sich von der Mauer ab und macht sich auf den Weg. Sie biegt nach rechts aus dem Pflanzenviertel in Richtung Stadttor. Der Weg ist frei, niemand zu sehen.

Ob Gazli Wederwandel sich wohl wunderte, warum ihr fehlendes Schäfchen nicht wieder aufgetaucht war? Vielleicht fragte sie sich, ob die junge unscheinbare Frau wirklich so lupenrein war. Aber höchstwahrscheinlich ist es ihr egal und sie sitzt längst wieder in ihrem warmen Zuhause. Ein weiterer Wächterwechsel ist vollzogen worden. Langsam kommt sie dem neuen Gardisten näher, ihr Herz beginnt schneller zu schlagen. Doch er scheint nicht informiert über eine von der Reisegruppe Abgefallenen und so stellt es kein Problem dar, Valys zu verlassen. Der Gardist geht von der Unbescholtenheit der kleinen Besucherin mit der Kapuze und der furchtsamen Miene aus. Außerdem muss sie ja bereits ihre Papiere vorgezeigt haben, als sie in die Stadt kam.

„Jetzt solltest du dich aber beeilen, nach Hause zu kommen, Mädchen. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es nicht mehr sicher außerhalb der Stadtmauern. Viel Glück.“

Er mustert sie von oben nach unten und Brigid läuft ein Schauer über den Rücken. Nein, auch diese hohen Mauern garantierten keine Sicherheit oder brachten zwangsläufig ein Gemeinschaftsgefühl. Und einmal mehr ist sie dankbar, Valys wieder verlassen zu können. Sie nickt ihm kurz zu und setzt ihren Weg durch das Tor und über die Brücke fort. Schon bald erreicht sie das Wäldchen, dass sie von den Wiesenlanden trennt.

Plötzlich tritt eine dunkle Gestalt hinter einem Baum hervor. Brigid bleibt stehen und blickt mit zusammengekniffenen Augen auf die sich schnell nähernde Person. Dass sie die Luft angehalten hatte, merkt sie erst, als die Gestalt direkt vor ihr, die Kapuze zurückwirft und ein Mann sie schelmisch anschaut. Valery ‚der Grobe‘! Er schüttelt kurz seine blonden Locken auf.

„Du bist spät dran“, sagt seine tiefe Stimme und klingt besorgt.

„Du hast mich erschreckt, Val!“

„Tut mir leid, aber wir wollten uns doch hier treffen.“

Er zieht sie an sich und gibt ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn. Sie erwidert seine Umarmung und fährt mit den Händen seinen Rücken nach oben. Da ist es, mein Gemeinschaftsgefühl, denkt Brigid nun. Es kommt nicht auf den Ort, sondern die Menschen an, mit denen wir uns sicher fühlen. Sie drückt Valery an sich.

„Komm, man könnte uns sonst zusammen sehen“, sagt sie schließlich und zieht Valerys Kapuze wieder über seinen Kopf.

 Daraufhin schreiten zwei Kapuzengestalten, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung der Wiesenlande davon. Es ist wieder ein ertragreiches Jahr geworden.


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